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Bildung ist nie gerecht

Schule als „selektives Bildungssystem“?

Von RAINER WERNER, veröffentlicht in CICERO-online, 15. 07. 2021

Der Schule immer wieder vorgeworfen, sie vertiefe die Kluft zwischen den Kindern aus dem Bildungsbürgertum und aus bildungsfernen Schichten. Die Kritiker lassen außer Acht, dass die Weichen für eine erfolgreiche Schulkarriere im Elternhaus gestellt werden.

In jeder Bildungsdebatte fällt der griffige Satz, der Geldbeutel der Eltern dürfe nicht länger über den Schulerfolg der Kinder entscheiden. Aus dem 19. Jahrhundert kennen wir die Gepflogenheit, dass Eltern das kärgliche Salär der Dorfschullehrer mit Naturalien auffrischten. Dabei mag es vorgekommen sein, dass der so bedachte Pädagoge beim Sohn des Großbauern, dem er ein fettes Suppenhuhn verdankt, ein Auge zudrückte, wenn er bei der Mathearbeit versagte. Was sollte heutige Lehrer bei ihrem mehr als auskömmlichen Gehalt dazu veranlassen, die Kinder vermögender Eltern denen aus armen Familien vorzuziehen? Lehrern ist es strikt untersagt, von Eltern auch nur einen Kugelschreiber als Geschenk anzunehmen. Was hat in unserer Wohlstandsgesellschaft der Schulerfolg der Kinder also mit dem Geldbeutel der Eltern zu tun? Der Besuch staatlicher Schulen und Universitäten ist kostenlos. Für minderbemittelte Eltern gibt es das Bildungspaket, in dem Geld für Bücher, Unterrichtsmaterial, das Mittagsessen in der Schulmensa sowie für Sportvereine und Musikschulen enthalten ist. Für Klassenfahrten kommt das Job-Center oder der Sozialfonds der Schule auf. Während des Corona-Lockdowns bekamen minderbemittelte Schüler Laptops von der Schulbehörde geliehen. Wo spielt das Geld also noch eine Rolle?

Eine Neidformel

Die Rede vom „Geldbeutel der Eltern“ ist eine Neidformel, die den wahren Sachverhalt verschleiert. In Wirklichkeit bestimmt nämlich nicht der Geldbeutel der Eltern über den Schulerfolg, sondern ihr Erziehungsverhalten. Und dieses wird geprägt vom sozialen Milieu, in dem die Eltern leben, und von ihrem Bildungsstand. Wenn das Kind einer deutschen Unterschichtfamilie nur in abgerissenen Satzfragmenten spricht, kann man erahnen, dass die Kommunikation im Elternhaus auf unterstem sprachlichem Niveau stattfindet. Wenn das Kind einer arabischen Familie bei der Einschulung nur gebrochen Deutsch spricht, weiß man, dass es keine Kita besucht hat, sondern von der Mutter oder Großmutter zu Hause erzogen wurde. Wenn ein Kind, wenn es in die Grundschule kommt, noch nie eine Schere in der Hand hatte, weiß die Lehrkraft, dass die Eltern mit dem Kind noch nie gebastelt haben. Man braucht kein Pädagoge zu sein, um die Prophezeiung zu wagen, dass diese Kinder in der Schule benachteiligt sein werden – bei gleicher Intelligenz wie ihre deutschen Klassenkameraden. Die überragende Bedeutung der erzieherischen Einflüsse in den ersten Kindheitsjahren ist wissenschaftlich bestens belegt. Der in Dublin lehrende Forscher Jan Skopek stellt in einer aktuellen Studie fest, dass sich die Wissensschere zwischen den Kindern der bildungsaffinen und bildungsfernen sozialen Schicht schon vom Tage der Geburt an öffnet. Der schichtenspezifische Entwicklungsindex der Kinder erreicht im siebten Lebensjahr – dem Jahr der Einschulung – seine größte Diskrepanz. Während der Schulzeit bleibt die Differenz immerhin konstant, was sich der homogenisierenden Schulkultur verdankt. Skopek spricht vom „standardisierten Milieu“ der Schule. https://c0.pubmine.com/sf/0.0.3/html/safeframe.htmlReport this adPrivacy Settings

Auf die Familie kommt es an

Wenn man diesen Befund vorurteilsfrei bewertet, muss man zur Überzeugung kommen, dass die Schule gar nicht die „Sortiermaschine“ (Martin Spiewak) darstellt, als die sie von linken Bildungspolitikern immer bezeichnet wird. In Abwandlung eines Spruches von Bill Clinton könnte man sagen: „It´s the family, stupid!“. Warum verschweigen „fortschrittliche“ Bildungspolitiker diesen Sachverhalt, der Grundschullehrern am Tag der Einschulung unmittelbar in die Augen springt? Weil dann das übliche Ritual der Schuldzuweisung nicht mehr funktionieren würde. Dann wäre nicht mehr „das selektive Bildungssystem“ am Misserfolg der Kinder schuld, weil es Kinder nach dem Geldbeutel der Eltern behandle – die Kinder der Reichen fördernd, die Kinder der Armen benachteiligend. Dann rückte das Verhalten der Eltern in den Blick: ihre Ignoranz den Entwicklungsbedürfnissen ihrer Kinder gegenüber, ihr Unvermögen, fördernd und stimulierend auf den Geist der jungen Geschöpfe einzuwirken. Das Grundgesetz nimmt Eltern in die Pflicht: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“ Die Politik tut sich schwer, diese Pflicht einzufordern, weil die Parteien auf das Wohlwollen der Eltern als Wähler angewiesen sind. Mit dem Finger auf die Schule zu zeigen, ist hingegen eine wohlfeile Übung.

Frühkindliche Prägungen

Die Benachteiligungen von Kindern beginnen, wie man heute weiß, sehr früh. Wenn eine schwangere Frau häufig klassische Musik hört, entwickelt das Neugeborene schon früh ein Rhythmusgefühl, die Vorstufe von Musikalität. Wenn kleinen Kindern regelmäßig vorgelesen wird, bilden sie ein differenziertes Sprachvermögen aus und schreiben schon in der Grundschule verblüffend gute Texte. Wenn ein Kind im Elternhaus erlebt, dass die Eltern elaboriert reden und diskutieren, überträgt sich dieses sprachliche Vermögen auf das Kind. Es wird zum verbal geschickten, selbstbewussten Streiter in eigener Sache. Wenn ein Kind Lob und Zuspruch erfährt, wenn es die Welt im Spiel entdeckt, wird es später auch im schulischen Lernen Neugier und Ehrgeiz entwickeln. Wenn man sich von all diesen stimulierenden Anreizen das Gegenteil denkt, kann man ermessen, wie tiefgründig und wie nachhaltig die Handikaps und Defizite sind, mit denen die Kinder zu kämpfen haben, die in bildungsfernen Elternhäusern heranwachsen müssen. Schon in der Grundschule sitzen sie im hintersten Waggon des Geleitzuges.

Die Grenzen kompensatorischer Bildung

Die entscheidende Frage für den Pädagogen ist: Kann Schule diese Defizite noch ausgleichen? Nach allem, was man über kompensatorische Bildung weiß, kann sie es nur sehr begrenzt. Sie kann es vor allem nicht dadurch, dass sie den leistungsstarken Schülern und den Schülern mit Lerndefiziten die gleichen Lernangebote macht. Wenn man den Befund der Studie von Jan Skopek ernst nimmt, müsste die Grundschule von der ersten Klasse an in den beiden wichtigsten Fächern Deutsch und Mathematik einen differenzierten Unterricht anbieten. In Deutsch müsste der Fokus für die Kinder aus bildungsfernen Schichten auf Lesen und Schreiben, der Erweiterung ihres Wortschatzes und der Festigung grammatischer Strukturen liegen. In Mathematik müsste der Zahlbegriff erarbeitet und die einfachen Rechenoperationen geübt werden. Die Kinder aus dem Bildungsbürgertum, die bei der Einschulung oft schon lesen und schreiben können, benötigen hingegen anspruchsvolles Unterrichtsmaterial, das sie geistig fordert. Ihnen sollte auch freigestellt werden, gleich in die zweite Klasse aufzurücken.   Dem bisher „heiligen“ Gleichheitsprinzip würde damit ein Konzept passgenauer Förderung entgegengestellt. Es müsste sich an der Einsicht des amerikanischen Psychologen Paul F. Brandwein orientieren: „Es gibt nichts Ungerechteres als die gleiche Behandlung von Ungleichen.“

Sprache ist entscheidend

Mit Ausnahme der Fremdsprachen ist in allen Schulfächern die Unterrichtssprache Deutsch. Ob ein Kind erfolgreich lernt, hängt deshalb sehr stark von seinen sprachlichen Fähigkeiten ab. Auf allen Schulstufen müssen Schüler Texte lesen und eigene Texte verfassen können. Die US-Forscher Todd Risley und Betty Hart stellten in einer Sprachstudie fest, dass Kinder aus der bildungsaffinen Mittelschicht mit drei Jahren ca. 1000 Wörter beherrschen, Kinder der Unterschicht nur die Hälfte. Mit dieser Hypothek starten diese Kinder in die erste Klasse. Eine deutsche Studie zeigt, dass Migrantenkinder in Mathematik deshalb schlechter abschneiden als ihre deutschen Klassenkameraden, weil sie mitunter den Text der Aufgabenstellung nicht richtig verstehen. Im Zuge der Einführung einer lebensnahen Mathematik ist die Didaktik nämlich dazu übergegangen, die Rechenoperationen in kleine Geschichten zu kleiden.  Schüler mit mangelhafter Sprachfertigkeit können ihre Intelligenz nicht voll zur Geltung bringen, weil diese häufig nur in der Form verbaler Ausdrucksformen abgerufen wird.

Migrantenkinder sollten in die Kita

Am Gymnasium ist der elaborierte Sprachgebrauch vollends unverzichtbar. Wer ihn beherrscht, kann nicht nur Texte jeden Schwierigkeitsgrades verstehen, er kann sich auch mündlich und schriftlich auf höchstem Sprachniveau ausdrücken. Diese Qualität kommt Schülern im Studium zugute, wo die Fähigkeit, Sachverhalte zu verbalisieren, in den meisten Fächern dominiert.  Wenn man diese Befunde ernst nimmt, muss man Eltern aus der spracharmen deutschen Unterschicht und aus Migrantenfamilien dringend raten, ihre Kinder in die Kita zu schicken. Dort lernen sie im Umgang mit ihren Spielkameraden auf spielerische Weise differenziert zu sprechen, was ihre Startchancen in der ersten Klasse der Grundschule enorm verbessert. In Dänemark gibt es für Kinder in sozialen Brennpunkten eine Kita-Pflicht ab dem ersten Lebensjahr. Eltern, die der Pflicht nicht nachkommen, kann das Kindergeld gestrichen werden.

Stadtteilmütter an die Front

In den Wohnvierteln unserer Großstädte, die überwiegend von Migranten bewohnt werden, hat sich eine Einrichtung besonderes bewährt: die Arbeit der Stadtteilmütter. Dies sind Frauen, die selbst ein Einwanderungsschicksal haben und die sich als häusliche Beraterinnen betätigen. Sie haben eine Ausbildung in Kindererziehung, Erwachsenenbildung und Gesprächsführung absolviert und beraten im häuslichen Gespräch vor allem Mütter aus der Migrantenschicht, die wegen mangelnder Sprachkenntnisse nie zu einer öffentlichen Familienberatung gehen würden. Die Stadtteilmütter vermitteln Informationen zur Kindererziehung, zu Gesundheit und Familienrecht, zur Sprachförderung und zum Medienkonsum. Auch Suchtprophylaxe und Hilfe bei häuslicher Gewalt stehen auf dem Programm. Studien haben den Erfolg des Einsatzes der Stadtteilmütter bestätigt. Sie schaffen es auf der Basis gegenseitigen Vertrauens, die Mütter, die oft aus einem uns sehr fremden Kulturkreis stammen, für die Entwicklungsprobleme ihrer Kinder zu sensibilisieren und das Erziehungsverhalten in die richtigen Bahnen zu lenken. Dieser Einsatz kann die Defizite, die Kinder aus der Migrantenschicht zwangsläufig haben, zumindest teilweise kompensieren.  Durch diese Hilfestellung wird ihnen der Start in der Grundschule erleichtert.

„Tausche Bildung gegen Wohnung“

Inzwischen gibt es viele zivilgesellschaftliche Initiativen, deren Mitglieder benachteiligten Kindern ehrenamtlich Nachhilfeunterricht erteilen. In Duisburg und Gelsenkirchen gibt es die Einrichtung „Tausche Bildung gegen Wohnung“. Junge Menschen dürfen in einer kommunalen Wohnung mietfrei wohnen, wenn sie sich dafür verpflichten, Kinder aus sozial schwachen Familien als Bildungspaten zu unterstützen. Ein solches Engagement kann die Defizite von Kindern aus der Unterschicht, die aus mangelnder häuslicher Unterstützung resultieren, ein Stück weit ausgleichen.

Ein Problem in Unterschichtfamilien ist der unregelmäßige Schulbesuch der Kinder. Immer wieder müssen die Ordnungsämter säumige Kinder zum Unterricht „vorführen“, weil sie von den Eltern nicht in die Schule geschickt wurden. In Berlin gab es eine Zeitlang eine Sondereinheit der Polizei, die morgens um 10 Uhr die Elektronikmärkte in den Einkaufszentren durchkämmte, um Schüler, die sich dort dem Videospiel hingaben, einzusammeln und in ihrer Schule abzuliefern. Man muss kein Lehrer sein, um zu erkennen, dass die Lücken, die durch unregelmäßigen Schulbesuch gerissen werden, die Schulkarriere eines Kindes ungünstig beeinflussen müssen. 

Auch schwierige Schüler haben Potential

Ich finde es beeindruckend, dass es immer wieder Lehrkräfte gibt, die freiwillig ein Gymnasium in einem gut situierten Bezirk verlassen, um die Kärrnerarbeit an einer Gesamt- oder Sekundarschule in einem Problemkiez auf sich zu nehmen. Sie motiviert nicht nur die Solidarität mit den sozial Schwachen und Abgehängten, sie trauen sich auch zu, solche Schüler mit der Kraft ihrer Persönlichkeit positiv zu beeinflussen. Vorurteilslos und offen nehmen sie sich ihrer an und schaffen selbst zu den schwierigsten Schülern einen Zugang. Diese ungewohnte Zuwendung löst bei den Schülern mitunter die   Lernblockaden und korrigiert auch ihr destruktives Verhalten.  Erfolgreiche Lehrer vermeiden das, was die Lernforschung „Etikettierung“ nennt. Die Zuschreibung von Schwächen – „ein Einstein wird nie aus dir!“ –  untergräbt das ohnehin schwache Selbstwertgefühl. Schädlich sind auch unbewusst ausgesandte nonverbale Signale, wie z. B.  herablassende Gesten oder zweifelnde Blicke.

Hausaufgaben den Lehrer zuliebe

Befragungen von Schulschwänzern haben ergeben, dass sie die Schule vor allem deshalb schwänzen, weil sie sich von einzelnen Lehrern ungerecht behandelt, stigmatisiert und ausgegrenzt fühlen.  Umgekehrt kennt man das Phänomen, dass Schüler zu Hause sagen, für ihren Biologielehrer würden sie die Hausaufgaben auch dann erledigen, wenn sie keinen Spaß machen. Sie machen sie ihm zuliebe, weil sie ihn nicht enttäuschen wollen. Der persönliche Faktor im Unterrichtsgeschehen wurde jahrelang unterschätzt, weil man das Heil immer nur in Strukturreformen gesehen hat

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