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Lob der Sekundärtugenden

Veröffentlicht auf CICERO-online am 20.08.2021

Lernerfolge von Schülern verdanken sich nicht nur Intelligenz und Auffassungsgabe. Wichtig und stark unterschätzt sind die guten alten Sekundärtugenden. Als Lerneinstellungen erleben sie eine Renaissance, meint der Berliner Gymnasiallehrer und Publizist Rainer Werner.

Die Schüler hatten es während der Corona-Pandemie nicht leicht. Als im Frühjahr 2020 die erste Infektionswelle anrollte, wurden die Schulen abrupt geschlossen, um Ansteckungsketten zu unterbrechen. Auf das Homeschooling waren die wenigsten Schulen technisch und pädagogisch ausreichend vorbereitet. Es ruckelte nicht nur sprichwörtlich bei den täglichen Videokonferenzen, sondern auch bei den Lehr- und Lernstrategien. Als die Schüler im Herbst wieder in die Schulen zurückkehrten, stellten die Lehrer bei einem Drittel  erhebliche Lernrückstände fest. Lernforscher sehen die Ursachen für diese Defizite vor allem im sozialen Gefälle der Elternhäuser. Während die akademische Mutter, die sich selbst im Homeoffice befindet, nebenbei ihre beiden Kinder optimal unterstützen kann, ist das Kind einer Supermarktverkäuferin beim Fernunterricht auf sich allein gestellt. Abgehängt zu werden, ist dann nicht selten die Folge. Ein Umstand wurde in der Öffentlichkeit bislang zu wenig beachtet, der aber einen großen Einfluss auf den Lernerfolg von Schülern hat: ihre Lerneinstellung, also das, was Psychologen die Sekundärtugenden nennen.

Charaktertest Homeschooling

Das Homeschooling war, wenn man es unter lernpsychologischen Gesichtspunkten betrachtet, auch ein Charaktertest. Es gab Schüler, die sich täglich aufs Neue disziplinierten und alle online gestellten Aufgaben pünktlich erledigten. Dann gab es aber auch Schüler, die den Verlockungen nachgaben, sich aus dem Lernzusammenhang auszuklinken, um am PC zu spielen oder einfach abzuhängen. Ein bekanntes Nachrichtenmagazin berichtete von einem 17-jährigen Berliner Gymnasiasten, der an seiner eigenen Laissez-faire-Haltung scheiterte und die Schule ein Jahr vor dem Abitur abbrach. Sein Bericht ist beklemmend: „Ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich habe das Gefühl gekriegt, dass ich nicht mehr mitkomme. Das hat mich ziemlich heruntergezogen. Also habe ich es gelassen. Ich habe bis zu den Sommerferien insgesamt vielleicht an drei Schultagen teilgenommen. Dann habe ich morgens den Computer nicht mehr angemacht.“ Der Schüler ist nicht an schlechter schulischer Betreuung (seine Schule lobt er als „meganett“) und auch nicht an mangelnder Unterstützung durch die Eltern (der Vater ist Akademiker) gescheitert, sondern daran, dass er es nicht gelernt hatte, sich auf eine Sache einzulassen, die beschwerlich ist und keinen unmittelbaren Erfolg verspricht. Ein solches Unvermögen wird auch Schülern beim Lernen im Präsenzunterricht häufig zum Verhängnis.

Vom Gehorsam zur Teamfähigkeit

Als Sekundärtugenden bezeichnet man Charaktereigenschaften, die zum reibungslosen Funktionieren einer Einrichtung und letztlich der ganzen Gesellschaft beitragen. Man nennt sie auch „bürgerliche Tugenden“, weil sie den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstieg des Bürgertums befördert haben. Dazu zählen Fleiß, Disziplin, Pflichtbewusstsein, Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit. Ihren Ursprung hatten diese Tugenden in Preußen. König Friedrich Wilhelm I., der Soldatenkönig, musste das von seinem verschwendungssüchtigen Vater Friedrich I. heruntergewirtschaftete Land runderneuern. Für Verwaltung und Militär übernahm er die Erziehungsgrundsätze des pietistischen Reformers August Hermann Francke: Wahrheitsliebe, Fleiß und Gehorsam. Die preußischen Tugenden waren geboren. Nach der Reichsgründung 1871 wurden diese Leitsätze patriotisch „aufgeladen“, um das nationale Projekt mental zu befeuern. So kamen Treue, Ehre und Patriotismus hinzu. Einen grundlegenden Paradigmenwechsel bei den Sekundärtugenden bewirkte die Studentenbewegung von 1968, die auch eine Umwertung der Werte mit sich brachte. Jetzt traten Tugenden wie Kreativität, Selbstverwirklichung und Solidarität in den Vordergrund und verdrängten die Werte aus obrigkeitsstaatlicher Hinterlassenschaft. Unvergessen ist eine Kontroverse zwischen den beiden führenden Sozialdemokraten Helmut Schmidt und Oskar Lafontaine. Letzterer warf dem Kanzler, der sich für den NATO-Doppelbeschluss einsetzte, vor, im „Dritten Reich“ diskreditierte Tugenden zu vertreten: „Helmut Schmidt spricht weiter von Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standhaftigkeit. […] Das sind Sekundärtugenden. Ganz präzis gesagt: Damit kann man auch ein KZ betreiben.“ (STERN-Interview vom 15. 07. 1982)

Kopfnoten in den Zeugnissen

In der Schule schlugen sich die Sekundärtugenden in den sog. Kopfnoten der Zeugnisse nieder. Betrafen sie bis in die 1970er Jahre hinein vor allem Charaktereigenschaften wie Fleiß, Ordnungsliebe und Pünktlichkeit, kennzeichnen sie heute wichtige Lerneinstellungen:  Selbstständigkeit, Verantwortungsbereitschaft, Kooperations- und Teamfähigkeit, Konfliktfähigkeit und Toleranz (so das Zeugnis in Brandenburg). Lange gab es Bestrebungen von Eltern, die Kopfnoten ganz abzuschaffen, weil sich darin die Voreingenommenheit einer Lehrkraft gegenüber einem wenig geschätzten Schüler ausdrücken könnte. Es gab auch „fortschrittliche“ Lehrer, die die freie Entfaltung der Schülerpersönlichkeit durch die Sekundärtugenden behindert sahen. Ihnen war nicht bewusst, dass vor allem die Kinder aus bildungsfernen Schichten darauf angewiesen sind, dass sie neben dem Wissensstoff auch unverzichtbare Lernhaltungen lernen. Der französische Philosoph und Autor Didier Eribon beschreibt in seinem Bestseller „Rückkehr nach Reims“, wie er in der Schule als Kind aus der Unterschicht um ein Haar ein Opfer seiner chaotischen Lerneinstellung geworden wäre: „Mein Auftreten und meine Ausdrucksweise dürften eher die eines zwanghaften Querulanten gewesen sein als die eines aufstiegswilligen, fleißigen Kindes.“ Erst als er sich die Lerndisziplin seiner Kameraden aus dem Bildungsbürgertum aneignet hatte, schaffte er das Abitur und den Weg zu einer akademischen Laufbahn.  

Rückschlüsse auf die Arbeitseinstellung

Gegen die Abschaffung der Kopfnoten sprachen die Erfahrungen aus dem Unterricht, wonach zum erfolgreichen Lernen nicht nur Intelligenz und Auffassungsgabe gehören, sondern auch Lernbereitschaft und Durchhaltevermögen. Und dies sind eben Sekundärtugenden. Industrie- und Handwerksverbände sprachen sich ebenfalls vehement für die Beibehaltung der Kopfnoten aus. Personalchefs schauen nämlich nicht nur auf die Noten der beiden Hauptfächer Deutsch und Mathematik, sondern vor allem auf die Kopfnoten, weil sie daraus Rückschlüsse auf die Arbeitseinstellung der Bewerber ziehen können. Forscher des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung machten für eine Studie folgendes Experiment. Von fiktiven Schülern fertigten sie Zeugnisse an, mit denen sie sich für Ausbildungsplätze bewarben. Die „Bewerber“ waren männlich und interessierten sich für die Berufe des Elektronikers und Mechatronikers. Das Ergebnis der Studie ist frappierend. Die meisten Zusagen erhielten Bewerber, die zwar einen mittelmäßigen Notendurchschnitt hatten, aber durch gute Verhaltensbewertungen glänzen konnten. Selbst Schüler mit schlechten Noten konnten solche mit guten Noten ausstechen, wenn sie über besonders gute Kopfnoten verfügten.

Charakterliche Mängel sind schwer behebbar

Das Kalkül der Firmen ist einleuchtend: Fachliche Defizite kann man ausgleichen. Der richtige Ort dafür ist die Berufsschule. Charakterliche Mängel hingegen sind nur schwer zu beheben. Sie können sich nachteilig auf ein Arbeitsverhältnis auswirken. In Kenntnis dieser Einstellungspraxis verzichtet das Land Berlin seit Jahren darauf, auf den Abschlusszeugnissen (MSA und Abitur) Fehlzeiten auszuweisen. Auf unentschuldigte Fehlzeiten hatten Firmen bei Einstellungsgesprächen nämlich besonders allergisch reagiert. Zielführender wäre es freilich, den Schülern das Schwänzen abzugewöhnen.

Einfluss auf die Karriere

Lernforscher der Universitäten Tübingen, Houston und Illinois haben 2018 in einer Studie herausgefunden, dass es zwischen Sekundärtugenden wie Fleiß, Verantwortungsgefühl, Durchhaltevermögen und schulischem Erfolg einen deutlichen Zusammenhang gibt. Solche Lerneinstellungen haben offenbar einen erheblichen Einfluss auf das spätere Leben, und zwar unabhängig von der Intelligenz der Schüler sowie von Bildung oder Einkommen ihrer Eltern. Es zeigte sich, dass verantwortungsvolle Schüler, die Interesse an der Schule zeigten und ihre Schul- und Hausaufgaben pünktlich erledigten, sowohl nach elf als auch nach 50 Jahren noch einen höheren Bildungsabschluss und einen angeseheneren Job hatten als die Vergleichsgruppe. Außerdem war ihr Einkommen nach 50 Jahren höher als das Gleichaltriger, die kein großes Interesse an der Schule gezeigt hatten. „Das beeindruckende an diesem Ergebnis ist, dass unser Verhalten einen Einfluss darauf hat, was aus uns wird, und nicht nur, wie wir von der Natur oder unseren Eltern ausgestattet wurden“, sagt Marion Spengler von der Universität Tübingen, die Erstautorin der Studie.

Videokonferenz, dann erst Videospiel

Der neuseeländische Lernforscher John Hattie hat in seiner Studie „Lernen sichtbar machen“ (2009) Lerneinstellungen auf ihre Wirksamkeit hin untersucht. Die wichtigsten nennt er „affektive Interventionen“, wie z.B. Motivation, Konzentration, Ausdauer und Anstrengungsbereitschaft. In Bezug auf erfolgreiches Lernen misst er diesen Eigenschaften eine hohe Wirksamkeit bei. An einigen dieser Tugenden kann man direkt ablesen, dass sie im Homeschooling hilfreich gewesen wären. Die Beherrschung des Zeitmanagements hätte bewirkt, dass ein Schüler tägliche Lernzeiten und feste Hausaufgabenzeiten festlegt und penibel einhält. Von Selbstbelohnung könnte man sprechen, wenn ein Schüler angenehme Ereignisse auf die Zeit nach getaner Arbeit aufschiebt: zuerst die Videokonferenz mit der Klasse, dann das Videospiel.

Stille trainieren

Schüler lernen besser, wenn sie in ein geordnetes schulisches Leben und eine ruhige Unterrichtsatmosphäre eingebettet sind. Eine ruhige Lernatmosphäre ist deshalb eine wichtige Produktivkraft im Unterricht. Bis in die 1960er Jahre gelang es Lehrkräften mühelos, im Unterricht für Ruhe zu sorgen. Ihnen standen eine unhinterfragte Amtsautorität und ein rigides Strafregiment zur Verfügung. Heute muss eine Lehrkraft mit ihrer natürlichen Autorität und mit kommunikativem Geschick für Ruhe sorgen. Sie muss die Schüler so erziehen, dass sie im Unterricht ihre Affekte kontrollieren und ihr Mitteilungsbedürfnis zügeln lernen. Mein Vorbild für Ruhe während des Unterrichts ist der Konzertsaal. Ich bin immer wieder aufs Neue beeindruckt, wenn ich erlebe, wie 3.000 Menschen in absolute Stille versinken, wenn das Saallicht erlischt und das Bühnenlicht aufflammt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Schüler, denen man in mühsamer Erziehungsarbeit eine solche Stille beigebracht hat, sie nicht mehr missen wollen, weil der Unterricht dadurch für sie eine bislang ungeahnte Qualität gewonnen hat.

Fürsorgliche Belagerung

In meiner aktiven Schulzeit konnte ich mich nur schwer damit abfinden, dass Schüler sehenden Auges ihre Schulkarriere in den Sand setzten. In einer 9. Klasse ärgerte ich mich über einen begabten türkischen Jungen, der wegen seines nachlässigen Lernverhaltens Gefahr lief, den Mittleren Schulabschluss nicht zu schaffen. Fußball war ihm wichtiger als Mathematik. Beim Breakdance zeigte er die Ausdauer, die er beim Lernen von Englisch-Vokabeln vermissen ließ. Ich wollte nicht einsehen, dass er nicht an mangelnder Intelligenz scheitert, sondern an seiner   Bequemlichkeit.  Ungefragt drängte ich mich ihm als Lern-Pate auf, fragte ihn ständig nach den Fortschritten in seinen Problemfächern, besorgte mir den Plan der Klassenarbeiten und gewann hilfsbereite Mitschüler zum gemeinsamen Lernen. Um sein starkes Ego zu befriedigen, gab ich ihm den Job des Beleuchters bei den schulischen Theateraufführungen. So vom pädagogischen Eifer des Lehrers bedrängt, schaffte er den MSA und absolvierte erfolgreich eine Lehre bei einer Firma für Theaterbeleuchtung. Jahre später dankte er mir beim Schulfest dafür, dass ich ihm damals, „als er noch dumm war“, wie er sagte, auf die Füße getreten sei.

Ein Prozent Inspiration, 99 Prozent Transpiration

Was Laissez-faire-Pädagogen für eine Form von Zudringlichkeit halten mögen, empfand der haltlose Schüler als erwünschte Zuwendung – mit gutem Ausgang. Im Grund habe ich das nachgeholt, was die Eltern an ihrem Sohn versäumt haben. Ich habe ihm die wichtige Sekundärtugend der Anstrengungsbereitschaft beigebracht. Vom Erfinder der elektrischen Glühbirne Thomas Edison kennen wir das Bonmot, Genie sei ein Prozent Inspiration und 99 Prozent Transpiration. Wenn in unseren Schulen der Faktor Transpiration wieder mehr geschätzt würde, hätten unsere Schüler sicher bessere Lernerfolge. 

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